Leseprobe auf Bobby Schenks Transatlantik in die Sonne:
„Heute ist der 17. Dezember 1992. Letzte Nacht ist etwas passiert, das uns alle doch ziemlich erschüttert hat. Während wir bereits die ersten Wetten abschlossen, wann Barbados in Sicht kommen würde, wurde der Wind abends stärker und stärker; wir konnten die Maschine ausschalten, flogen unter Großsegel und gereffter Genua mit acht, teilweise auch neun Knoten nur so dahin und die Stimmung war bestens. Wir tranken unseren Sundowner wie jeden Abend und amüsierten uns über die Schauer um uns herum. Die feine Linie am Horizont war weiß gefärbt. Wir freuten uns, wenn der Regen besonders schräg ins Wasser fiel und es in der Feme blitzte, was gelegentlich die Nacht taghell erleuchtete. Wir hatten ja zurzeit abnehmenden Mond, das heißt, der Mond ging erst lange nach Mitternacht auf, sodass es also gleich nach der Dämmerung stockfinster wurde.
Ich war nicht wirklich überrascht, als es plötzlich anfing, hart zu blasen. Es war ungefähr zehn Uhr; wir hatten ja keine Uhr und Zeiten konnten somit nur geschätzt werden. Wir nahmen die Genua ganz weg und ließen vom Großsegel nur noch einen kleinen Rest stehen. Plötzlich wurde es um uns herum richtig wild. Die See begann zu kochen. Selbst Theo, sonst die Ruhe in Person, bat mich, nach oben zu kommen.
Inzwischen prasselte der Regen aufs Deck, also suchte ich mir Ölzeug heraus. Ich hatte es aber noch nie zuvor benutzt und fand den Südwester nicht. So warf ich mir in der Eile nur die Jacke über und ging nach oben. Um uns herum herrschte Chaos. Das Großsegel stand back. Es war eine enorm starke Windbö und mir wurde sofort klar: Das bereits gereffte Groß musste ganz weg. Wir halsten. Der schwere Sturm machte eine Wende von vornherein unmöglich.
Ich schätzte die Bö auf Windstärke 10 bis 11. Sie trieb mir die Regentropfen mit solcher Gewalt ins Gesicht, dass sie wie Nadelstiche schmerzten. Am schlimmsten tat es in den Augen weh, selbst wenn sie zugekniffen waren. Jetzt hätte ich einen Tipp von befahrenen Seglern für solche Fälle ausprobieren können: Tauchermaske benutzen. Doch in dem Chaos und in der Hektik war gar nicht daran zu denken, auf der SARITA nach Tauchsachen zu suchen. Sofort war ich auch unter dem Ölzeug triefend nass. Ich zog die Jacke aus und versuchte, jetzt ohne Schutz gegen den Regen, das Schiff auf einem Kurs vor dem Wind zu halten. Ich ließ mich nach wenigen Minuten am Ruder wieder ablösen. Obwohl die Situation in der Dunkelheit bedrohlich wirkte, nahm ich eine kurze Regendusche. Vor wenigen Stunden noch waren wir durch tropische Temperaturen gesegelt. Jetzt war es empfindlich kalt geworden, bereits nach fünf Minuten fror ich.
Theo war wie immer der erste, als es zu handeln galt. Er stand bereits am Mast, um den Rest des Großsegels zu bergen. Ich ging langsam in den Wind. Die wenigen Quadratmeter Großsegel schlugen und knatterten ohrenbetäubend, bis Theo sie endlich weggerollt hatte. Doch die Ruhe, die wir dadurch gewonnen hatten, war nur kurz. Wir waren jetzt in einer Situation, die es bisher auf der SARITA nicht gegeben hatte: Das Unwetter hatte uns die Orientierung geraubt. Wir wussten nicht mehr, wohin wir segeln sollten. Erst nahmen wir an, dass der Wind immer noch aus derselben Richtung wehte. Deshalb fuhren wir unter Maschine und bestimmten den Kurs nach dem Wind. Aber schon bald kamen uns Zweifel. Wahrscheinlich war das ganz falsch.
Gefühlsmäßig ahnte ich die Richtung, die uns aus dem Chaos herausführen konnte. Ich schrie dem Rudergänger Kommandos zu: 20 Grad mehr Backbord. 10 Grad mehr Backbord. 20 Grad mehr Backbord. Michael am Ruder brummelte nur etwas zurück. Wie sollte er auch solche Kommandos befolgen? Wie sollte er ohne Kompass in diesem Chaos 20 Grad nur geschätzt steuern, ganz zu schweigen davon, den Kurs halten? Auch am Wellenbild konnte er sich nicht orientieren. Zwar war die Salinglampe an. Doch sie beleuchtete die Wasseroberfläche nur wenige Meter weit: Sie war kochend und milchig weiß. Je mehr Kommandos ich schrie, umso deutlicher wurde, wie sinnlos sie waren. Wir konnten nur noch im Kreis fahren oder Schlangenlinien ins Wasser kielen. Insofern allerdings war die Lage nicht so erschreckend,
als der Sturm unserer Yacht ohne Segel am Mast vorerst nicht mehr viel anhaben konnte. Außerdem waren wir auf hoher See, weit weg vom nächsten Land, vom nächsten Riff. Aber stimmte das wirklich? Wir waren mitten im Passatgebiet in dieses Unwetter geraten.
Das beunruhigte mich vor allem. Aufgrund meiner früheren Reiseplanungen war mir der Begriff der Passatstörung vertraut. Sie wird auch Konvergenzzone genannt und bringt zahlreiche heftige Schauer, ebenso Gewitter mit wechselnden Winden. An und für sich ist das nicht tragisch. Wenn da nicht eine besondere Gefahr dabei wäre. Aus Wetterberichten ist bekannt, dass einem Orkan immer eine Konvergenzzone vorausgeht. Um diese Jahreszeit sind Wirbelstürme in dem Gebiet zwar selten, aber wenn einer auftritt, dann ist er mit großer Wahrscheinlichkeit auch tödlich. Theo kommentierte trocken: „Dann können wir aufgeben.“
Normalerweise bringen mich solche Unwetter nicht besonders aus der Ruhe. In meinem Seglerleben habe ich schon Dutzende davon erlebt. Doch in dieser Nacht war ich extrem nervös. Zwar kannte meine Mannschaft die Gefahr nicht, mir aber war sie sehr bewusst. Die „hurricane season“ in Westindien endet im Oktober. Doch auch zu Unzeiten sind schon Wirbelstürme aufgetreten. Sie haben immer verheerende Schäden hinterlassen. Üblicherweise geht man davon aus, dass ein „hurricane“ schön brav zwischen April und Oktober auftreten könnte und sonst Ruhe garantiert ist.
Ich schaute gelegentlich zu Theo. Selbstverständlich hatte er meine Gedanken erraten. Im Gegensatz zur übrigen Crew wusste er sehr wohl um die Gefahren des Wetters. Darüber brauchten wir gar nicht zu reden. Es war klar, wo hier das Problem lag: Wir befürchteten noch weitere Schwierigkeiten.
Als eine Art Passatbesegelung fuhren wir zwei Rollgenuas an einem Stag. Das sind zwei riesige Vorsegel an einer Vorstagstange, die üblicherweise nur für ein einziges Segel gedacht ist. Es wird in Ruhestellung einfach aufgerollt und bietet so keinen besonderen Widerstand. Bei uns aber waren gleich zwei riesige Segel eingerollt. Wenn sich der Wind darin verfing und wenn bei dem Sturm wegen des viel größeren Windwiderstandes die dünne Reffleine brach, würden sich beide Genuas am Vorstag ausrollen. Wir hatten dann zwei riesige Segel auswehen, die im Sturm nie mehr zu bändigen wären. Theo sagte: „Wenn das passiert, ist es das Ende.“ Es hätte keine Möglichkeit gegeben, die Segel runterzubekommen. Zwar waren zwei Parten Genuaschoten um die eingerollten Vorsegel gelegt, dennoch befürchtete ich ein derartiges Unglück. Es musste ja nicht einmal die Reffleine brechen. Auch eines der Segel hätte einreißen und sich auflösen können. Dann hätte der Wind genügend Ansatzpunkte gehabt, um mit seiner enormen Kraft schlimmes Unheil anzurichten.
Allmählich wurde die Stimmung an Bord ziemlich hysterisch. Wir waren vom Wachwechsel zwar noch einige Stunden entfernt, dennoch meinte Ludwig: „Jetzt muss unbedingt auch die zweite Wache raus.“ In einer Art psychischen Schwächeanfalls stimmte ich zu. Ludwig ging nach vorne. Er weckte Bernhard und Michael, obwohl der eigentlich Koch für den Tag und damit wachfrei war. Statt sich weiter selbst an der Wache zu beteiligen, versuchte Ludwig jetzt allen Ernstes, den Gasofen in Gang zu bringen. Das war unmöglich. Zwei Stunden vorher war das Gas zu Ende gegangen. Eine neue Flasche wollten wir am nächsten Morgen anschließen.
„Ich brauche aber Gas“, forderte Ludwig. „Ich will eine Nadel aufheizen, bis sie magnetisch wird. So können wir einen Ersatzkompass bauen und ungefähr unsere Richtung herausfinden.“ Das war natürlich Quatsch. Ein solches Experiment funktioniert vielleicht zu Hause im Wohnzimmer, was weiß ich, jedenfalls auf einem ruhigen Platz. Es funktioniert aber sicher nicht in einer Notsituation, in der auf Deck ziemliche Unruhe herrscht. Ich war einfach sauer, weil Ludwig den Ernst der Situation kaum begriff und mit derartigen Experimenten herumspielte.
Noch vor wenigen Minuten hatte Karl getönt, dass er einen absolut dichten Kajakanzug anlegen würde. Damit könne er im schlimmsten Regenguss staubtrocken bleiben. Jetzt kam er bleich nach unten. Ihm war die Seekrankheit anzusehen. Merkwürdig, dachte ich. Karl ist physisch der Stärkste der ganzen Mannschaft. Aber wenn es ernst wird, ist von ihm meistens nichts zu sehen. Das lag sicher nicht am bösen Willen, sondern allein daran, dass der Kajakfahrer Karl hier eben nicht in seinem Element war. Er konnte mit derartigen Situationen innerlich nicht viel anfangen. Ich musste an ein zynisches Wort des sonst so fröhlichen Michael denken, der in Anspielung auf die mannigfaltige Zusammensetzung unserer Crew den Spruch erfunden hatte: „Der offene Ozean ist wie eine geschlossene Anstalt!“
Wir fighteten Stunde um Stunde, um irgendeinen Ausweg aus diesem riesigen Schauergebiet zu finden. Lag das Schiff mit blankem Mast da, torkelte es umher, dass uns angst und bange wurde. Dann setzten wir den Motor ein, um die SARITA in Fahrt zu halten. Wir versuchten es auch mit Beidrehen. Wir zogen einen kleinen Teil des Großsegels heraus und legten das Ruder hart in den Wind. Das hatte zwar die Folge, dass die Yacht keine Fahrt voraus mehr machte, dafür aber wurde sie gelegentlich von der anrollenden See hochgehoben und mit dem Heck aufs Wasser geschmettert. Es krachte jedes Mal, als würde der Rumpf auseinanderreißen und wir bekamen ernsthafte Angst um das Ruder. Schließlich hielten wir die SARITA mit vielleicht 1.000 Umdrehungen in Schleichfahrt. Das war noch die beste Variante.
Welchen Kurs wir laufen sollten, wussten wir nicht mehr.“
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