Leseprobe aus der beeindruckenden Autobiografie von Bernard Moitessier

 

Es ist jetzt bald zweieinhalb Monate her, dass die Marie-Thérèse Singapur verlassen hat. Der letzte genaue Punkt wurde vor 40 Tagen auf der Karte eingetragen, auf 5 Grad nördlicher Breite, noch im vollen Monsun. Ich hatte verblüfft in einem hellen Augenblick die Berge Sumatras sich abzeichnen sehen. Das Zickzack meines Kreuzens gegen den Monsun hatte meine Schätzung komplett sinnlos gemacht. Ich wähnte mich 200 Meilen weiter westlich, war aber jetzt nur 20 oder 30 Meilen von der Küste entfernt. Ich steuerte schnell wieder Richtung offenes Meer, um Abstand zu dieser gefährlichen Nachbarschaft zu bekommen.
All dies ist mittlerweile weit weg, vielleicht mehr als 1.000 Meilen. Die Marie-Thérèse zieht im Passat auf dem achten Breitengrad Süd genau gen West ihre Bahn. Ich habe nicht einmal die Möglichkeit, ihre ungefähre Geschwindigkeit zu ermitteln, indem ich das Vorbeiziehen der Schaumblasen längsseits am Boot mit der Uhr stoppe. Mein Wecker mit dem Sekundenzeiger ist seit geraumer Zeit kaputt. Meine Schätzung wird immer unsicherer, je mehr Strecke ich zurücklege. Das einzige, was ich jeden Mittag dank meines Sextanten genau ermitteln kann, ist meine Breite. Ansonsten weiß ich überhaupt nicht, wo auf dieser riesigen Wasserfläche ich mich befinde.
Ich weiß nur, dass sich vor dem Bug, etwa 30 Meilen nördlich des achten Breitengrads, dem wir hier blind folgen, der Chagos-Archipel verbirgt. Dabei handelt es sich um eine gewaltige Sandbank in geringer Tiefe, die sich wie eine Spinne über nahezu 180 Meilen Breite und 90 Meilen Länge erstreckt: Untiefen mit unvorhersehbaren Strömungen, an denen sich das Meer sicherlich an einigen Stellen stark bricht; ausgedehnte Riffs einige Meter unter der Wasseroberfläche, kleine flache Inseln, die da und dort hinter den Wellen kaum zu sehen sind. Die Detailkarte erinnert mich an einen Sumpf, in dem es von Krokodilen nur so wimmelt. Lediglich das Diego-Garcia-Atoll am südlichen Ende des Chagos-Archipels könnte bei Tag und schönem Wetter auf zehn oder zwölf Meilen zu erkennen sein. Nachts ist gar nicht daran zu denken. Und ich kann partout nicht sagen, ob die Marie-Thérèse 100 oder 300 Meilen entfernt ist. Oder 500. Oder 50.

 

Der Große Chef hat gründlich nachgedacht. Ohne Chronometer, ohne Funk, ohne irgendetwas, das die Berechnung einer Länge ermöglicht, sollte es mir dennoch gelingen, die Position der Marie- Thérèse auf der Karte des indischen Ozeans mit einer Genauigkeit von 20 oder 30 Meilen zu bestimmen. Hierzu muss ich mich stur Richtung Westen auf der Breite 7°45‘ halten. Diese Taktik müsste mich sicher in einer Entfernung von 18 Meilen südlich von Diego Garcia passieren lassen. Die Meeresvögel, die das Atoll bevölkern, werden mich sicher beim Passieren warnen. Zweifelsohne werde ich sie in großer Anzahl um mein Boot herum fischen sehen.
Anschließend werde ich mindestens 48 Stunden lang einen Westkurs einschlagen, um sicher zu sein, dass ich die gesamte Bank umgangen habe. Dann würde ich direkt gen Norden bis zur Breite der Seychellen (4°30‘ Süd) segeln. Dort müsste ich diesem Breitengrad nur noch in aller Seelenruhe 700 oder 800 Meilen bis zu den Seychellen folgen. Diese Inseln sind hoch und schon von weitem zu sehen. Sie müssten ohne weiteres über den Breitengrad anzusteuern sein.

 

Drei Tage sind vergangen. Dem Großen Chef kommen Zweifel. Vögel habe ich seit dem Passat dauernd gesehen. Selbst mehr als 1.000 Meilen von Sumatra entfernt. Jeden Tag, fast ohne Ausnahme. Manchmal waren es wenige und an anderen Tagen wieder viele.
Wo sie schlafen, weiß ich nicht. Vielleicht im Himmel. Vielleicht auf dem Meer. Auf jeden Fall nicht in ihrem Nest. Gestern habe ich mindestens 30 gesehen. Heute nicht mehr als zehn oder zwölf. Wieviele werden es morgen sein? Und übermorgen? Und in einer Woche?
Ich bin mir jetzt nahezu sicher, dass mich die Meeresvögel beim Passieren von Diego Garcia nicht warnen werden.
Die innere Stimme bleibt beharrlich: „Vergiss die Seychellen, nimm Kurs auf Madagaskar, wo das Meer frei von Gefahren ist, mit von weitem sichtbaren Gebirgen, perfekt über die Breite anzusteuern.“ Das Problem ist, dass ich keine Wahl mehr habe. Wegen dieses runden Tisches aus schwarzem Holz, der gut verkeilt im Vorschiff verstaut ist. Ich muss ihn Onkel James bringen, der in Mahé auf den Seychellen auf ihn wartet. Als ich ihn am Vortag der Abreise an Bord kommen sah, sagte mir meine innere Stimme: „Pass auf, pass auf! Du bist gerade dabei, deine Freiheit zu verlieren.“ Aber Onkel James war so nett, dass ich ihm den Gefallen nicht verwehren konnte. Er hing so an diesem Kunstwerk, das zu schwer war, um im Flugzeug mitgenommen zu werden. Und ich hatte auch den Eindruck, dass er mich sehr gern hatte. Eines Tages ließ er durchblicken, dass ich ihn an den Sohn erinnerte, den er einst gerne haben wollte. Mein Vater hatte mir so etwas nie gesagt. Wenn es mir gelang, seinen wertvollen Tisch auf die Seychellen zu bringen, würde er mein Gönner werden. Wenn man kein Geld und auch sonst nichts hat, wenn man im Geldverdienen nicht so begabt ist wie Deshumeurs und wenn man sich nicht zu Tode arbeiten will, dann muss man sich einen Gönner suchen. Ein vietnamesisches Sprichwort sagt, dass eine Minute Protektion mehr wert ist als ein Leben voll Schufterei. Aber die innere Stimme wollte nicht verstummen, als ich den hübschen Tisch aus Ebenholz am Tag vor meiner Abreise von Singapur im Vorschiff verstaute: „Pass auf, pass auf!“ Wenn man aber immer auf seine innere Stimme hören würde, die einem sirenengleich irgendwelche Ratschläge gibt, wäre das Leben sehr eintönig.
Jetzt würde ich aber einiges dafür geben, wenn dieser Klotz am Bein nicht an Bord wäre.

 

Ich habe die Lösung für das Problem gefunden. Onkel James wird seinen hübschen Tisch bekommen und ich meinen Gönner. Eben habe ich das Kind zwischen der Karte und mir stehen sehen. Es sagt mir, dass mein Herz nicht mehr wie früher sei und dass ich riskieren würde, das Bündnis zu verlieren. Aber ich habe anderes zu tun, als mir seine Geschichte anzuhören, und ich sage dem Kind, es solle woanders spielen.
Ich studiere sorgfältig die Karte und korrigiere den Kurs etwas nach Nord. Für diese Taktik hätten sich sicherlich die großen Seefahrer von früher entschieden, um ihre Länge zu finden, als es noch keine Chronometer gab. Ich werde es ihnen nachmachen. Onkel James wird stolz auf mich sein. Auch Deshumeurs, wenn er meinen Brief von den Seychellen erhält. Ich werde einen Breitengrad höher gehen, bis zum siebten. Dort werde ich wieder einen Kurs direkt gen Westen einschlagen und dabei strikt meinem neuen Breitengrad folgen. Dadurch gelangt die Marie-Thérèse in eine 30 Meilen breite Fahrrinne zwischen dem Norden von Diego Garcia und einer Gruppe von sechs flachen kleinen Inseln, die aber auf der Detailkarte genau eingezeichnet sind. Die relative Ruhe des Meeres in der Windabdeckung von Diego Garcia wird mir selbst nachts meine Position verraten. Wenn ich tagsüber passiere, könnte ich möglicherweise zusätzlich die Wipfel der Kokospalmen sehen, die auf diesem großen Atoll stehen.
Und nach diesem Bravourstück braucht sich der Große Chef nur noch wie vorgesehen auf den Weg zu den Seychellen machen.

 

Es war einst ein Rabe, der einem Steinadler beim Wegtragen eines am Vortag geborenen Lamms in seinen Fängen zusah. Also sprach der Rabe: „Das mache ich genauso.“ Er suchte sich das größte Schaf der Herde aus, stürzte sich auf dieses und verfing sich mit seinen Krallen dermaßen im dichten Pelz, dass er sich nicht in Sicherheit bringen konnte, als der Schäfer kam. Er fand sich in einem Käfig wieder und hatte alle Zeit der Welt, um über die Geschichte des Raben, der es dem Adler gleichtun wollte, nachzudenken.
Es gibt keinen Großen Chef mehr. Es gab noch nie einen Großen Chef. Es gibt nur einen bedauernswerten Kerl, der schluchzend seine schöne Marie-Thérèse betrachtet, die mitten in der Nacht von den Korallen vor Diego Garcia aufgeschlitzt wurde.
Nimm dich zusammen und hör auf zu heulen! Das ist das Leben, mit allen Hochs und Tiefs. Das solltest du eigentlich wissen. Öffne deine Augen und schau dich um. Siehst du diesen dicken, sehr reichen Herrn dort drüben? Wisch deine Tränen ab und setz ein Lächeln auf. Zeig ihm deine hübschen Beine, die sich unter deinen Lumpen verbergen. Er wird dir den Kiel deines nächsten Bootes schenken.
Aber was höre ich da? Die kleine Hure in Lumpen hat für den dicken, sehr reichen Herrn kein hübsches Lächeln übrig? Sie sagt, dass sie sich nicht dressieren lassen will und zwar kein bisschen? Sie hat Angst, ihre Freiheit zu verlieren? Aber von welcher Freiheit sprichst du? Du brauchst ein Boot. Das ist die Freiheit für deinesgleichen und nichts anderes!
Und das ist auch ihre einzige Freiheit. Alles, was sie sich tief in ihrem Herzen wünschen, ist, durch dich ihren Traum zu verwirklichen. Es gibt aber eine Spielregel. Also lächle dem dicken, sehr reichen Herrn zu und den anderen auch. Das ist die Spielregel. Spiel hier nicht die eingebildete Pute, zeig ihnen deine hübschen Beine, gib ihnen ein Lächeln so strahlend wie die Sonne. Du weißt ganz genau, dass das die Herzen und die Geldbeutel öffnet. Außerdem gefällt das allen. In Singapur und Toboali hast du das gekonnt. Warum also nicht hier?
Na also, die nette kleine Hure ist nicht vollkommen plemplem. Sie lässt sich dressieren und bleibt noch ein bisschen wild, um ihren Charme zu steigern. Sie ist wirklich begabt, die kleine Hure, sie hat alles verstanden, sie lächelt schon wieder so strahlend wie in Singapur und Toboali. Siehst du, so schwer war das doch gar nicht!

 

Seit Diego Garcia sind drei Jahre wie im Traum vergangen. In diesem Traum gab es viel Schweiß, Grübeleien und Opfer, um zum Meer zurückzufinden. Und jetzt könnte ich schreien vor Freude auf dem Deck der Marie-Thérèse II auf dem Weg nach Südafrika und rund um die Welt, allein an Bord meines hübschen Bootes.
Ich trage in meinem Herzen die ganze Geborgenheit von Mauritius, wo ich diese Jahre verbracht habe, die mich wieder auf die Füße gestellt haben. Alles wurde mir geschenkt: der 400-Kilo-Kiel, Schrauben, Nägel, Beschläge, die Spanten aus schönem schwarzem Holz, die beiden Masten, die Segel, ein Großteil der Planken, der Sextant und der Chronometer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es auf der Welt ein großzügigeres Volk gibt. Edle Menschen, die mit offenen Händen ihre Freundschaft anbieten. Sehr viel Freundschaft. Sie haben mir ebenfalls beigebracht, das Besteck vollständig anhand von Sonne, Breite und Länge zu nutzen.

 

Die Marie-Thérèse II ist auf der langen Dünung des indischen Ozeans nach Durban unterwegs. Sie ist noch nicht ganz fertig. Auch ich bin noch nicht ganz fertig. Ich muss noch viel lernen. Beispielsweise die astronomische Navigation. Das hat aber noch Zeit, bis sich eine Gelegenheit ergibt.
Das gilt auch für die Marie-Thérèse II. Wenn ich gewartet hätte, bis mein Boot ganz fertig gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich niemals den Anker gelichtet. Ich hätte endlose Zeit am Ankerplatz damit verbracht, unnötige Spielereien zu basteln, weil ich sie für unverzichtbar beim Segeln hielt.
Ich bin 30 Jahre alt und bestimme die Position. Nicht nur mit dem Sextanten und dem Chronometer.

 

Ich bin 30 Jahre alt und bestimme, wo ich im Leben stehe, während ich den Himmel betrachte. Er sagt mir, dass ich das Bündnis gewahrt habe und alles gut gehen würde, solange ich nur daran festhalte.
Das Kind hat sich im Cockpit neben mich gesetzt. Ganz weit vor dem Bug liegt Durban. Noch viel, viel weiter das gefürchtete Kap der Guten Hoffnung. Wir lauschen dem Rauschen des Wassers an der Bordwand. Ein Regenbogen, geboren aus der Gischt und der Sonne, zeigt sich am Bug. Und der Passat summt in der Takelage, um uns das Lied des Windes zu singen, der sich mit den Segeln vereint hat.

Ich verstehe jetzt die Sprache dieser Musik. Sie sagt mir, dass ich Bürger des schönsten Landes auf Erden bin. Ein Land mit harten, aber einfachen Gesetzen, das niemals trickst, das gewaltig und ohne Grenzen ist, in dem sich das Leben im Jetzt abspielt.
Und sie erinnert mich daran, niemals zu vergessen, dass es in diesem Land ohne Grenzen, in diesem Land des Windes, des Lichts und des Friedens nur einen Großen Chef gibt: Das Meer.

 

Dies ist ein Auszug aus Bernard Moitessiers Autobiografie „Tamata“. Neugierig geworden? Zu kaufen im Buchhandel oder hier im Shop.